Was wir über Russen wissen, stammt meist aus Geschichtsbüchern, Spionagefilmen aus Hollywood, den Nachrichten - und bestenfalls noch aus Erzählungen von Menschen, die schon einmal Russen erlebt haben. Heutzutage sind das deutlich mehr Menschen, denn die Russen fallen immer öfter in westlichen Badeorten ein und reisen in Ferienregionen, die wir für die unseren halten. Sie benehmen sich dort aber nicht gemäß des Verhaltenskodexes, den wir als Maßstab anlegen. Daher fallen sie unangenehm auf. Früher waren die Russen uns ein Rätsel, weil sie kaum je in unserer Lebenswelt auftraten. Wir im Westen mussten ethnologische Berichte über sie lesen, um sie halbwegs zu erfassen. Im Osten Deutschlands und in den heutigen neuen Bundesländern war der Russe allerdings allgegenwärtig. Mit der Zahl der Russenwitze hat das aber wohl nichts zu tun, denn in der Ex-DDR wagte man kaum, über den Besetzer zu witzeln. Hinter vorgehaltener Hand tat man es aber doch. Die meisten Russenwitze stammen jedoch aus den USA oder aus Westdeutschland, wo Redefreiheit gegeben war.
Russenwitze sind oft ethnische Witze, denn sie bedienen sich ethnischer Klischees. An denen ist durchaus etwas Wahres, aber im Witz wird das Klischee zur Szenerie, in der die Pointe gesetzt wird. So befassen sich beispielsweise viele Russenwitze mit dem Wodka, denn der Russe gilt als überaus trinkfreudig. Er ist auch sonst das krasse Gegenteil des "zivilisierten" Amerikaners - daher sind Witze, in denen Kulturvergleiche vorgenommen werden, nicht selten. Treffen sich ein Russe, ein Amerikaner und ein Japaner, so lautet der Beginn einer witzigen Geschichte oft. Sie kann sich aber auch nur um den direkten Vergleich zwischen Russen und Amerikanern drehen. Beide streben die stärkste Weltmachtposition an und neigen dazu, einander übertrumpfen zu wollen. Viele Russenwitze drehen sich also um prahlerische Behauptungen, die ein Russe gegenüber einem Amerikaner macht. Dass am Ende beide Sieger sein können, darf kaum erwartet werden, denn die Russen werden immer die Vrelierer darstellen. In der Zeit des "Kalten Krieges" waren politische Witze um Russen und Amerikaner zu finden, die sich oft um die Politiker drehten, die Russland und Amerika verkörperten. Insbesondere der trinkfreudige Boris Jelzin bot sich als Witzfigur an, ebenso aber der Schauspieler-Präsident Ronald Reagan. Die Rückständigkeit der russischen Infrastruktur bietet ebenso viel Fläche für Russenwitze wie der Verzehr von Kaviar oder das Wickeln von Babys. Wenn die Russen also im Witz einen geländegängigen Superkraftwagen erfunden haben und eine deutsche Delegation zur Besichtigung einladen, sind diese im Witz wenig beeindruckt, weil der desaströse Zustand der russischen Straßen eine solche Erfindung schlichtweg notwendig macht. Alles, was Russen in einem Russenwitz prahlerisch als Fortschritt bewerben, entpuppt sich im Nachhinein als lächerlich.
Russen gelten im Witz als nicht besonders intelligent, aber ebenso wenig als zivilisiert. Darum drehen sich viele Russenwitze. Ob ein Bier trinkender Russe die Bierdeckel für Kekse hält (was zugleich auch eine witzige Aussage über die Qualität russischer Backwaren impliziert) oder ob der Witz in einem Arbeitslager in Sibirien spielt: Immer wird Wahres zum Klischee und mittels einer witzigen Wendung zum Gespött gemacht. Gerne kolportiert wird auch der niedrige Wert des russischen Rubels. Zu den berühmtesten Russenwitzen dürften aber die "Fragen an Radio Eriwan" gehören. Sie bilden einen eigenen Witztypus ab: den des Frage- und Antwortspiels. In interessanten Fragen an einen fiktiven russischen Radiosender entblößen sich Eigenheiten Russlands, die peinlich sind. Auf die Frage, welchen Unterschied es eigentlich zwischen dem russischen Rubel, dem amerikanischen Dollar und dem britischen Pfund gebe, antwortet Radio Eriwan "Ein Pfund Rubel sind ein Dollar". Damit ist der niedrige Wert der russischen Währung witzig kolportiert. Mangel ist überhaupt ein Thema in Russland und folglich auch im Russenwitz. Geht also ein altes Mütterchen in einen Fleischerladen und fragt nach diversen Fleischsorten, erhält sie im Witz stets eine negative Antwort. Das Gewünschte ist nicht vorhanden. Am Ende murmelt der Metzger erbost einen Spruch über das gute Erinnerungsvermögen der Oma, die ihn mit der Mangelsituation konfrontiert, die er anscheinend längst für den Normalzustand gehalten hat. Die eigentliche Frage, die hier aber nicht zur Sprache kommt, ist: Wozu braucht es in Russland einen Fleischer, wenn keine einzige Fleischsorte da ist? Viel hat sich an den Zuständen im Land seit den Sechzigern anscheinend nicht geändert. Mittlerweile sind die Russen auch nicht mehr die beliebteste Lachnummer, weil sie in unseren bevorzugten Urlaubsorten unangenehm auffallen und mit Geld nur so um sich werfen. Urlaub im Westen können allerdings nur jene Russen machen, die genug Geld besitzen. Sie prägen das Gegenbild zum armen russischen Mütterlein, das eher selten im Russenwitz einen Platz findet.
Der Geheimdienst, russische Politiker und Bonzen oder das Parlament werden umso öfter zum Gegenstand des Spotts - allerdings bevorzugt aus sichererer Entfernung. Im Land selbst wagt man nicht, an solchen russischen Institutionen zu rütteln. Ethnische Witze reißt man bevorzugt über andere: Russen lachen über Amerikaner und Deutsche, Deutsche über Amerikaner und Russen. Briten lachen über alle drei. Der Ethnozentrismus oder die Bedeutung, die man sich selbst zumisst, erlauben wenig Raum für Humor, der einen selbst betrifft. Immerhin reagieren russische Politiker nicht so empfindlich auf im Ausland kolportierte Russenwitze wie die Chinesen, die diese gleich als Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten bezeichnen und zum politische Affront hochstilisieren. Hier wird klar, welche Wertigkeit Humor in einem Land hat und welche in einem anderen nicht geduldet wird. Ob Russen über Russenwitze lachen können, wissen wir nicht. Das typische an Nationalitätenwitzen ist, dass man über die eigenen nicht lachen kann. Die Witzinhalte liegen zu nah an der Wahrheit und konfrontieren einen mit den unangenehmen Seiten des eigenen Nationalcharakters.